Dom Minden  
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Tempel oder Markthalle

Pfarrbrief vom 09.11.2003:
Für das Fest des Feiertages der Lateranbasilika in Rom hat die Kirche die biblische Begebenheit ausgewählt, in der Jesus die Händler aus dem Tempel vertreibt. „Macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle“ (Joh 2,16); ihr habt kein Recht, den Tempel umzufunktionieren und ihn für eure Geschäfte zu missbrauchen. Der Tempel hat die Aufgabe, mitten in der Betriebsamkeit der Welt auf Gott hinzuweisen. Die Kirche hat diese Zielsetzung übernommen; sie soll beim Gottesverlust unserer Zeit zum Zeichen für Gott werden.

Beim Bau Europas spielt die Frage eine Rolle, ob nur über Markthallen oder auch über Tempel gesprochen werden darf. Soll in der neuen EU-Verfassung ein Hinweis auf Gott stehen oder hat er in einer Verfassung nichts zu suchen?

Wir leben in einer Zeit der Abwesenheit Gottes; Gott spielt nach Meinung vieler Menschen in der Öffentlichkeit keine Rolle mehr. Darum sollte man ihn im Herzen der Menschen verstecken und nicht durch Tempel, Kirchen oder Gottesaussagen sichtbar machen. Dagegen ist zu sagen, dass kein Ereignis beim Punkt 0 beginnt und wurzellos wachsen kann. Ein Blick in die Geschichte aller Völker Europas zeigt, dass sie in den letzten 1.500 Jahren ohne den christlichen Glauben an Gott überhaupt nicht zu verstehen sind. Alle Völker von Ost bis West, von Portugal bis Russland sind aufs Engste mit Gott verbunden. Der Glaube an ihn hat alle Völker, Kulturen und Zivilisationen in Europa geprägt. Er ist die Wurzel, aus der wir leben. Sollen wir uns von dieser Wurzel trennen? Können wir den Weg in die Zukunft ohne Bezug auf unsere Vergangenheit finden? Müssen wir uns nicht gegen eine solche Entwurzelung wehren?

Wir leben in einer Zeit der Orientierungslosigkeit. „Die Welt hat ihre Richtung verloren“ (Ionesco). Finden wir sie wieder, wenn wir die Tempel zu Markthallen machen? Wenn wir Gott aus der Verfassung streichen? Da nach einem Wort von Guardini die „Kirche das Gewissen einer säkularisierten Welt“ ist, muss da nicht auch die Kirche mit ihrem Gottesglauben in der Verfassung vorkommen? Hat Mutter Teresa ihre Zivilcourage für die Sterbenden und Schwachen nicht aus ihrer Gottescourage bezogen? Ist sie durch ihre Liebe zu den Armen, die sie aus ihrem Glauben abgeleitet hat, nicht zu einer Wegweiserin für die ganze Welt geworden? Birgt nicht der Hinweis auf Gott in einer Verfassung die Verpflichtung zur Nächstenliebe in sich? Schützt der Hinweis auf Gott nicht vor totalitären Tendenzen in der Gesellschaft?

Wir leben in einer Welt ohne tragende Maßstäbe. Alles ist relativ geworden; auch absolute Werte werden preisgegeben und dadurch verfügbar. Sogar menschliches Leben und menschliche Würde - mit dem Wertesiegel des Absoluten versehen - werden relativiert. Der Anfang des Menschen ist für viele nicht mehr fassbar; die Frage, „wann beginnt der Mensch?“ wird in die unterschiedliche Beurteilung der Wissenschaftler gegeben. Und die menschliche Würde, die ohne Gottes Ebenbildlichkeit überhaupt nicht zu erklären ist, wird einem Entwicklungsprozess unterworfen, als ob man Würde machen oder erwerben könnte. Würde hat der Mensch vom ersten Augenblick seiner Existenz, weil er Gottes Antlitz trägt. Hier stehen Fundamente einer Gesellschaft auf dem Spiel; darum muss eine Verfassung solche Aussagen treffen.

So stoßen wir bei allen tieferen Fragen, die den Menschen berühren, auf Gott, ohne den er nicht zu erklären ist. Darum ist der Bezug zu Gott für die Zukunft Europas wichtig. Natürlich sollen die „Markthallen“ in der Verfassung zur Sprache kommen, aber die „Tempel“ dürfen nicht verschwiegen werden - zum Wohle der Menschen.

Ihr

Paul Jakobi
Propst

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