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Um die Jahreswende 1938/39 veranlasste Prof. Dr. Werner Catel, Direktor des Leipziger
Universitätsklinikums, die Eltern eines schwerstbehinderten Kindes, ein Gesuch an
Hitler zu richten, um die nach geltendem Recht strafbare Tötung ihres Kindes zu erwirken.
Hitler beauftragte den Reichskommissar für das Gesundheitswesen, Prof. Dr. Brandt, mit der
Untersuchung dieses Falles. Brandt veranlasste darauf im Juli 1939 den Tod des Kindes. Diese
„besondere Ausnahme“ war der Auftakt zu den großen Patientenmorden, bei denen etwa 260.000
Behinderte ums Leben kamen. Diese Entwicklung kam nicht überraschend, sondern seit 1890
wurde an europäischen Hochschulen die Frage der Eugenik, der Selektion lebensunwerten Lebens,
bereits diskutiert und von seriösen Wissenschaftlern gefordert.
Wenn heute mit der Forderung der Freigabe der Präimplantationsdiagnostik der Ruf nach
Selektion menschlichen Lebens in schützenswertes und nicht schützenswertes wieder laut wird
und wieder unter der Maske des Mitleids auftaucht, dann muss man sehen, dass der Unterschied
der Argumente der Eugenikdebatte zwischen heute und vor 100 Jahren äußerst gering ist.
Damals wie heute wird diese Debatte unter Masken geführt, schreibt der Theologe und Bioethiker
Dietmar Mieth. Und auch die Masken sind weitgehend die gleichen geblieben. Die Selektion trägt
die Maske der Selbstbestimmung der Eltern. Der Eingriff in die Reproduktion trägt die Maske
der Fruchtbarkeit, und die Vernichtung von behinderten Kindern damals und von Embryonen mit
Erbschäden heute trägt die Maske des Mitleids.
Ihr
Wolfgang Ricke
Klinikseelsorger
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