Dom Minden  
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Eine große Frau in unserer Stadt

Pfarrbrief vom 18.11.2001:
Vor 125 Jahren, am 11.10.1876, wurde die bedeutende deutsche Dichterin Gertrud von le Fort in Minden - wahrscheinlich im Hause Rosentalstraße 7 - geboren. Kurz danach ist die evangelische Familie in das heute nicht mehr erhaltene Haus Weingarten 30 umgezogen. Gertrud hat nur 4 Jahre in Minden gelebt; 1880 wurde ihr Vater als Berufsoffizier nach Berlin versetzt. Wenn auch ihre Kindheitserinnerungen an diese Stadt gering sind und sie hier keine Wurzeln geschlagen hat, darf Minden sich dennoch glücklich preisen, die Geburtsstadt dieser ungewöhnlichen Frau zu sein. Im hiesigen Stadttheater ist ihre Büste von dem Bildhauer Fidelis Bentele aufgestellt. Die Dichterin ist vor 30 Jahren, am 1.11.1971 in Oberstdorf als eine Grenzgängerin zwischen den Konfessionen gestorben. Ihre Konversion zur katholischen Kirche, die nach der Begegnung mit dem evangelischen Religionsphilosophen Ernst Troeltsch und der Stadt Rom 1926 in der Kirche Santa Maria dell‘Anima erfolgte, hat sie nicht als Bruch, sondern als integrativen Akt verstanden. Sie begründete ihren Schritt mit den Worten: Ich erkenne die Reformation als zu ihrer Zeit sicherlich von Gott gewollte Bewegung an. Aber ich kann sie nicht in ihrer Notwendigkeit als dauernden Zustand der Trennung erkennen, eben weil ich die Trennung nicht durch unüberwindlich religiöse Gegensätze gerechtfertigt finde. Genau das ist auch gängige Auffassung vieler Christen heute. Häufig hat sie evangelische Anliegen gegen die Auffassung der römischen Kirche vertreten und dafür harte Kritik von ihr erfahren.

Alle ihre Schriften zeugen von tiefer Religiösität. Aus ihrem christlichen Glauben schöpfte sie die Kraft zum Widerstand gegen das Dritte Reich. Ihre Werke Die Letzte am Schafott (1931), Die Abberufung der Jungfrau von Barby (1940) und das den Mord an den behinderten Kindern anklagende Gericht des Meeres (1943) waren Proteste gegen die herrschende Ideologie, die auch sie selbst verfemte. Ihre Erfahrungen mit der Schreckenszeit fasste sie in dem Wort zusammen: Nicht nur der lichte Tag, auch die Nacht hat ihre Wunder. Es gibt Blumen, die nur in der Wildnis gedeihen, Sterne, die nur am Horizont der Wüste erscheinen. Es gibt Erfahrungen der göttlichen Liebe, die uns nur in der äußersten Verlassenheit, ja am Rande der Verzweiflung geschenkt werden. Diese Erfahrung hat die Dichterin in überragender literarischer Aussagekraft in ihrer Erzählung Die Letzte am Schafott beschrieben. Lebenslang war die Hauptgestalt dieser Erzählung, die in der Französischen Revolution lebende Ordensfrau und Karmeliterin Blanche von einer existentiellen Angst erfüllt. Aber in der Todesszene schenkt Gott ihr Größe und Kraft, weil sie sich ihm ergibt. Durch seine Gnade wurde sie zu einer furchtlosen Zeugin des Glaubens, indem sie ihre eigene Todesangst mit der Todesangst Christi verband. Sie sang mit ihrer kleinen, schwachen, kindlichen Stimme ohne jedes Zittern das Veni Creator Spiritus ihrer hingerichteten Schwestern zu Ende. Aus ihrer Verbundenheit mit Christus wuchsen ihr Kräfte der Umwandlung zu, die das Wunder der Schwachen bewirken. Le Fort beschreibt diesen Vorgang mit dem Wort: Die Grenze des Menschen ist stets das Einfallstor Gottes.

Alle ihre Werke sind von einer ungebrochenen Aktualität. Am Vorabend der Schreckenstage der Französischen Revolution lässt sie die Frage stellen: Woher kam damals dieses plötzliche Emportauchen des Satanischen, dieses unheimliche Heranschleichen des Unsagbar-Dunklen? Wer hatte es gerufen? Ist das nicht eine Frage auch angesichts der schrecklichen Terroraktionen unserer Zeit?

Alle ihre überragenden Antworten kommen aus der Tiefe ihres Glaubens. Hier werden Aussagen gemacht, die den Menschen in ihrer Verunsicherung und Angst wirklich helfen können. Sie will nicht oberflächlich trösten, sondern der blutenden Welt Heil zusprechen. In den Hymnen an die Kirche (1924) beschreibt sie eine Vision von Kirche, wie sie kaum einem Theologen gelungen ist. Trotz der oft anderen Wirklichkeit der Kirche schildert sie ihr Geheimnis und ihre Bedeutung für die Welt:

Ich will dich noch wollen, wo ich dich nicht mehr will.
Wo ich selbst anfange, da will ich aufhören,
und wo ich aufhöre, da will ich ewiglich bleiben.
Wo meine Füße sich weigern, mit mir zu gehen,
da will ich mich einknieen,
und wo meine Hände versagen,
da will ich sie falten.

Gertrud von le Fort, die uns das Vertrauen und das Beten gelehrt hat, darf in Minden und in der Kirche nicht in Vergessenheit geraten!
 
Ihr

Paul Jakobi
Propst

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