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Maria und ihr Dom

Pfarrbrief vom 05.05.2002:
In einer kleinen Erzählung las ich einmal von einem Jungen, der neu eingeschult war und seine ersten Unterrichtsstunden erlebte. Plötzlich fing er an zu weinen und war ganz untröstlich. Der gütige Lehrer versuchte herauszufinden, aus welchem Grunde der Schüler so schluchzte. Schließlich gab er sein Geheimnis preis: "Ich habe vergessen, wie meine Mutter aussieht." Daraufhin sagte der verständnisvolle Lehrer: "Nun geh schnell nach Haus und sieh dir deine Mutter an. Wenn du dir ihr Gesicht eingeprägt hast, kommst du wieder zurück." Nach einer halben Stunde kam der Schüler strahlend wieder in die Klasse.

Vielleicht ist diese kleine Geschichte ein Hinweis auf den Muttertag am nächsten Sonntag, der in vielen Familien begangen wird. Der Dichter Leo Sternberg hat der Beziehung zur Mutter eine noch größere Tiefe gegeben, wenn er über sie schreibt:

"Ich will meine Mutter noch einmal sehn!"
Da deckte mir der Tod ihr Antlitz auf ...
Wie? eine Krone hatte sie,
und ich sah es nie?
Sie trug einen goldenen Kronreif im Haar?

"Weißt du nicht, dass deine Mutter eine Königin war?"
Zu ihren Füßen liege ich
und fasse mich ins Haar:
Warum, warum habe ich nie gesehn,
dass meine Mutter eine Königin war!

Ich weiß nicht, wie Kinder oder Eltern heute auf einen solchen Text reagieren. Vielleicht ist unsere Zeit zu nüchtern geworden, um solche Bilder zu entdecken und Gefühle zu zeigen. Sowohl die Alltagserzählung als auch das Gedicht ermöglichen im Monat Mai einen Zugang zu Maria. Viele Christen haben ihre Beziehung zu ihr verloren und wissen nicht mehr, wie diese Frau aussieht. Bei den mittelalterlichen Menschen war das ganz anders. Sie haben einem ganzen Dom ein "Mariengesicht" gegeben. Wenn man die Grundstruktur der Halle des Domes untersucht und in Dreiecke zerlegt, entdeckt man auf dem Boden einen sechsstrahligen Stern, der ein klassisches Mariensymbol darstellt. Über diesem Marienstern wölbt sich der Raum wie ein Leib, in dem der Erlöser lebt. Jedes der großen Maßwerkfenster bildet eine Rose, die immer ein Bild für Maria war. Während diese Zeichen sich versteckt im Raum befinden und nur von einem geschulten Auge entdeckt werden können, wird die Marienthematik in vielen Darstellungen sichtbar vor Augen geführt: Etwa das herrliche, soeben restaurierte Marienfresko am rechten vorderen Vierungspfeiler, die Pieta in der Turmkapelle, Maria unter dem Kreuz auf dem Gert-van-Loon-Bild, der ausdrucksstarke Marientorso an der Südseite, die thronende Madonna unter der riesigen Rosette, die Emerentiagruppe oder die Anna-Selbdritt im Matthiasaltar. Und nun kommt am Pfingstmontag die Goldene Tafel hinzu, in der Maria als Königin sowohl im romanischen als auch im gotischen Teil dargestellt ist. Was von der irdischen Mutter gesagt wurde, gilt auch von der himmlischen: "Weißt du nicht, dass deine Mutter eine Königin war?" Eine Mutter will immer schützen und bergen, Wege mitgehen und Türen öffnen, für ihre Kinder bitten und sie zum Heil führen.

Alles das will auch Maria und ihr Dom!
 
Ihr

Paul Jakobi
Propst

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